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Der Tag war wie zum Träumen geschaffen. Es war bereits später Nachmittag, und die Sonne warf lange Schatten, wo sie durch das dichte Unterholz hindurchscheinen konnte. Hauptsächlich jedoch verfing sich das schimmernde Sonnenlicht in den Baumkronen, wodurch der Wald in geheimnisvolles Dämmerlicht getaucht war. Die heiße, schwüle Sommerluft war von dem süßen Duft wilder Kirschen durchtränkt, dem eine Note des erdigen Geruchs faulender Blätter und der Duft frischen grünen Blattwerks beigemischt war. Seit jeher schon hatten Gerüche für Faith Devlin ihre eigenen Farben gehabt. Bereits als kleines Mädchen hatte sie sich gerne damit beschäftigt, die sie umgebenden Düfte in Gedanken zu kolorieren.

Die meisten Farben hingen dabei vom Aussehen einer Sache ab. Erde roch selbstverständlich braun, und der frische Geruch grünen Blattwerks korrespondierte mit der Farbe Grün. Pampelmusen dagegen dufteten grellgelb. Sie hatte zwar noch nie eine Pampelmuse gegessen, hatte in einem Laden aber einmal eine in der Hand gehalten und vorsichtig an der Schale gerochen. Der zugleich süße wie auch säuerliche Duft hatte ihre Geschmacksnerven überwältigt.

Gegenstände farblich zu bestimmen war einfach. Einen Menschen jedoch einer bestimmten Farbe zuzuordnen war schon viel schwieriger, denn Menschen waren niemals nur von einer Farbe, sondern bestanden aus einer Mischung mehrerer Farbtöne. Farben hatten bei der Geruchsbestimmung von Gegenständen nicht dieselbe Bedeutung, wie dies bei Menschen der Fall war. Ihre Mutter, Renee, entsprach einem dunklen, würzigen Rotton, der mit ein paar schwarzen und gelben Tupfen gesprenkelt war. Das würzige Rot jedoch dominierte alle anderen Farben. Gelb war gut für Gegenstände, hatte jedoch nicht dieselbe positive Besetzung, wenn es auf Menschen zutraf. Mit Grün verhielt es sich genauso, jedenfalls bei den meisten seiner Schattierungen. Ihr Vater, Amos, war eine Übelkeit erregende Mischung aus Grün, Lila, Gelb und Schwarz. Das war einfach zu bestimmen gewesen, denn seit ihrer frühesten Kindheit hatte sie ihn mit Erbrochenem assoziiert. Trinken und sich übergeben, wieder trinken und sich wieder übergeben, das war alles, was Papa machte. Und pinkeln natürlich, und zwar reichlich.

Der schönste Geruch auf Erden, dachte Faith, während sie durch den Wald streifte und zum Sonnenlicht in den Baumwipfeln hinaufschaute, ist der Duft von Gray Rouillard. Faith lebte fast ausschließlich für die wenigen Blicke, die sie in der Stadt von ihm erhaschen konnte. Wenn sie nah genug an ihn herankam, um seine tiefe, dunkle Stimme zu hören, zitterte sie vor Freude. Heute war sie ihm sogar nah genug gekommen, um ihn zu riechen! Und er hatte sie endlich einmal berührt! Ihr war immer noch ganz schwindelig davon.

In Prescott hatte sie mit ihrer älteren Schwester Jodie eine Drogerie betreten, weil Jodie aus Renees Portemonnaie ein paar Dollar geklaut hatte und sich davon Nagellack kaufen wollte. Jodies Geruch war orange und gelb, ein blasser Abklatsch von Renees Duft. Sie waren aus der Drogerie gekommen, und Jodie hatte den kostbaren Nagellack in ihrem Büstenhalter versteckt, damit Renee ihn nicht entdeckte. Jodie trug bereits seit drei Jahren einen Büstenhalter, obwohl sie erst dreizehn Jahre alt war. Eine Tatsache, die Faith jedesmal ärgerte, wenn sie daran dachte. Denn Faith war schon elf und hatte immer noch keine Brüste. Vor kurzem hatten ihre kindlich kleinen Knospen zu sprießen begonnen, was ihr jedoch eher peinlich war. Unter ihrem lila LSU-T-Shirt war sie sich ihres entstehenden Busens nur zu bewußt. Als sie jedoch beim Verlassen der Drogerie fast mit Gray zusammengestoßen waren, hatte Faith vollkommen vergessen, wie dünn ihr T-Shirt war.

»Hübsches Hemd«, hatte Gray bemerkt, wobei seine dunklen Augen belustigt funkelten. Dann hatte er ihr auf die Schulter geklopft. Gray verbrachte in diesem Sommer die Collegeferien der Louisiana State University zu Hause. Er spielte in der LSU-Footballmannschaft, war neunzehn Jahre alt, bereits einen Meter neunzig groß und wuchs immer noch weiter. Er wog kompakte achtundachtzig Kilo, wie Faith im Sportteil ihres Lokalblattes gelesen hatte. Dort hatte sie auch erfahren, daß sein Laufstil bemerkenswert sei. Und ihr war bewußt, wie schön er war, nicht im niedlichen Sinn, sondern auf eine wilde, kraftvolle Weise, genau wie das preisgekrönte Rennpferd Maximilian seines Vaters. Seine französisch-kreolische Abstammung zeigte sich in dem dunklen Teint und der klaren, ausgeprägten Knochenstruktur seines Gesichts. Sein dichtes, schwarzes Haar hing ihm wie einem mittelalterlichen Krieger, der sich in die Neuzeit verirrt hatte, bis auf die Schultern herab. Faith las jeden Liebesroman über mittelalterliche Ritter, den sie in die Finger bekam, konnte also einen Ritter auch sofort erkennen, wenn ihr einer begegnete.

Ihre Schulter zitterte, wo Gray sie berührt hatte. Ihre schwellenden Knospen pochten. Sie errötete und senkte den Kopf. Ihr war ganz schwindelig von seinem Duft. Es war ein einerseits ausgeprägter, andererseits aber auch undefinierbarer Geruch, dem sie nichts zuordnen konnte. Er war warm und würzig, von einem noch tieferen Rot als der Renees, und voller verwirrender Farbnuancen.

Jodie streckte ihre runden Brüste hervor, die von einer ärmellosen Bluse in leuchtendem Pink bedeckt waren. Sie hatte die oberen beiden Knöpfe offengelassen. »Und was ist mit meiner Bluse?« fragte sie schmollend, wie sie es bei Renee unzählige Male beobachtet hatte.

»Falsche Farbe«, hatte Gray knapp und abfällig geantwortet. Den Grund für Grays Tonfall kannte Faith, denn ihre Mutter Renee schlief mit seinem Vater Guy. Sie kannte den Klatsch und das Gerede über Renee. Und sie wußte, was das Wort 'Hure' bedeutete.

Gray war dann an ihnen vorbei in die Drogerie gegangen. Jodie hatte ihm kurz nachgesehen und dann Faith gierig angeblickt und gefordert: »Gib mir dein Hemd.«

»Es ist dir viel zu klein«, hatte Faith geantwortet und war überglücklich gewesen, daß genau das tatsächlich zutraf. Gray hatte ihr Hemd gefallen, er hatte es sogar berührt, und sie würde es niemals hergeben.

Angesichts dieser Wahrheit hatte Jodie ihr einen mißmutigen Blick zugeworfen. Faith war klein und dünn, aber selbst ihre schmalen Schultern dehnten die Nähte des bereits zwei Jahre alten T-Shirts.

»Ich werde mir auch eins besorgen«, hatte Jodie angekündigt.

Das würde sie sicher tun, dachte Faith, während sie in die flimmernden Muster aufblickte, die die Sonne in dem Blattwerk hinterließ. Aber Jodie würde keines besitzen, das Gray berührt hatte. Faith hatte es gleich, nachdem sie nach Hause gekommen waren, ausgezogen und unter ihrer Matratze versteckt. Man würde es nur finden können, wenn man die Bettwäsche wechselte. Da dies aber niemand außer Faith tat, würde das T-Shirt sicher sein, und sie würde jede Nacht darauf schlafen können.

Gray. Die Heftigkeit ihrer Gefühle ängstigte sie, aber sie konnte sie nicht zähmen. Sie brauchte ihn nur zu sehen, und ihr Herz fing so wild in ihrem schmalen Brustkorb zu klopfen an, daß ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde. In der kleinen Stadt Prescott in Louisiana war Gray eine Art Halbgott. Man klatschte, daß er ungestüm und wild sei, aber das Geld der Rouillards ihm den Rücken decke. Bereits als kleiner Junge hatte er jenen dreisten Charme besessen, der weibliche Herzen höher schlagen läßt. Die Rouillards hatten das Ihre zur Versorgung Louisianas mit Herzensbrechern und Lebemännern beigetragen, und Gray hatte bereits früh gezeigt, daß er der wildeste von allen zu werden versprach. Aber er war ein Rouillard. Selbst wenn er vollkommen außer Rand und Band geriet, so tat er auch das noch mit einem gewissen Stil.

Und dennoch war er niemals unfreundlich gegenüber Faith gewesen, so wie andere Bewohner des Städtchens. Seine Schwester Monica hatte einmal vor ihnen ausgespuckt, als Jodie und Faith ihr auf dem Bürgersteig begegneten. Faith war froh, daß Monica mittlerweile auf einem Mädcheninternat in New Orleans war, selbst im Sommer die Zeit oft mit Freunden verbrachte und ihre Heimatstadt nur selten besuchte. Sie hatte monatelang getrauert, als Gray zum LSU-College fortgegangen war. Zwar lag Baton Rouge nicht sonderlich weit entfernt, aber während der Footballsaison hatte er wenig freie Zeit und kam nur über die Feiertage nach Hause. Wenn sie von seinem Besuch erfuhr, trödelte sie in der Stadt herum, um wenigstens einen Blick auf ihn zu erhaschen, wie er mit der aufregend kraftvollen Grazie einer Großkatze spazierenging.

Jetzt im Sommer verbrachte er viel Zeit am See, einer der Gründe für Faiths nachmittägliche Streifzüge durch die Wälder. Es war ein Privatsee und von über acht Millionen Quadratmetern Rouillardland umschlossen. Er hatte eine unregelmäßige, langgestreckte Form mit mehreren Biegungen. An manchen Stellen war er breit und ziemlich flach, aber an anderen schmal und tief. Östlich davon lag das große, weißgetünchte Anwesen der Rouillards, westlich die ärmliche Behausung der Devlins, wobei keines der beiden Häuser direkt an das Ufer des Sees angrenzte. Dort stand einzig das Sommerhaus der Rouillards. Es war ein weißes, einstöckiges Gebäude mit zwei Schlafzimmern, einer Küche, einem Wohnzimmer und einer mit Jalousien verhängten Veranda, die rund um das Haus lief. Etwas weiter entfernt vom Sommerhaus lagen der Bootsschuppen und ein Anlegesteg sowie der aus Klinkern gemauerte Grill. Im Sommer trafen sich dort manchmal Gray und seine Freunde und verbrachten den Nachmittag mit Schwimmen und Rudern. An solchen Tagen hielt sich Faith am Waldrand auf und beobachtete sie alle nach Herzenslust.

Vielleicht ist er heute auch dort, dachte sie. Das süße Verlangen, das sie bei dem Gedanken an ihn immer verspürte, war fast schon schmerzhaft. Es wäre einfach zu schön, wenn sie ihn an ein und demselben Tag gleich zweimal sehen könnte.

Sie war barfuß und trug kurze Shorts, die ihre dünnen Beine den Dornen und den Schlangen ungeschützt preisgaben. Aber Faith kannte die Wälder und die dort lebenden scheuen Tiere. Vor Schlangen hatte sie keine Angst, und die Kratzer beachtete sie nicht. Ihr langes, dunkelrotes Haar fiel ihr oft in die Augen, also band sie es mit einem Gummiband zurück. Wie eine Elfe schwebte sie durch den Wald, ihre großen Augen blickten bei dem Gedanken an Gray vollkommen verträumt. Vielleicht würde er ja da sein. Vielleicht würde er sie eines Tages im Wald oder hinter einem Baum versteckt entdecken. Vielleicht würde er ihr dann zuwinken und rufen: »Komm doch herüber und mach mit.« Sie verlor sich in dem wunderbaren Tagtraum, wie sie Teil dieser lachenden, wilden, sonnengebräunten Teenager sein würde, wie sie eines von jenen kurvenreichen Mädchen im knappen Bikini wäre.

Noch bevor sie den Rand der Lichtung erreicht hatte, auf der das Sommerhaus stand, konnte sie bereits den silbrigen Glanz von Grays davor geparkter Corvette erkennen. Ihr Herz begann in der ihr wohlbekannten Weise wie wild zu schlagen. Er war da! Sie glitt vorsichtig hinter einen dicken Baumstamm. Es waren überhaupt keine Geräusche zu hören. Kein Planschen, kein vergnügtes Schreien oder Gelächter.

Vielleicht angelte er vom Steg aus oder war mit dem Boot hinausgefahren. Faith trat einen Schritt näher, um den Bootssteg ganz überblicken zu können. Es war jedoch niemand zu sehen. Er war nicht da. Enttäuschung stieg in ihr auf. Wenn er mit dem Boot ausgefahren war, dann war seine Rückkehr vollkommen unbestimmt, und sie konnte nicht lange hier auf ihn warten. Sie hatte sich diese Zeit ohnehin abgeknapst, denn sie mußte schon bald zurück sein und das Abendessen kochen. Und sie mußte sich um Scottie kümmern.

Gerade wollte sie sich zum Gehen umwenden, als sie einen erstickten Laut hörte. Lauschend versuchte sie das Geräusch zu orten. Sie trat aus dem Wald heraus und ging ein paar Schritte auf der Lichtung in Richtung Haus. Jetzt vernahm sie Stimmengemurmel, aber es war zu leise und undeutlich. Sie konnte es nicht verstehen. Ein Glücksgefühl durchströmte sie: er war doch da. Aber er war im Haus. Es würde schwierig sein, vom Wald aus einen Blick auf ihn zu erhaschen. Wenn sie sich jedoch noch weiter heranwagte, dann würde sie ihn hören können. Das würde ihr reichen.

Faith konnte sehr leise sein. Ihre nackten Füße machten nicht das geringste Geräusch, als sie auf das Haus zuschlich, es aber gleichzeitig vermied, vom Fenster aus gesehen zu werden. Das Gemurmel schien vom hinteren Teil des Hauses zu kommen, wo sich die Schlafzimmer befanden.

Sie hatte die Veranda erreicht und sich auf die unterste Stufe gesetzt. Sie neigte den Kopf zur Seite, um das Gespräch zu verfolgen, aber es blieb undeutlich. Sie erkannte jedoch Grays Stimme, die tiefen Töne waren klar zuzuordnen, jedenfalls für Faith. Dann hörte sie eine Art Keuchen, eine viel höhere Stimme, der ein Stöhnen entfuhr.

Von Neugier und von Grays Baß unwiderstehlich angezogen, stand Faith auf und drehte sehr vorsichtig den Türgriff herum. Die Fliegengittertür war nicht verschlossen. Sie öffnete sie gerade weit genug, daß eine Katze hätte durchschlüpfen können, dann zwängte sie ihren schmalen, federleichten Körper hindurch und schloß sie geräuschlos hinter sich. Auf Händen und Knien kroch sie über die Veranda auf das geöffnete Fenster eines der Schlafzimmer zu, aus dem die Stimmen zu kommen schienen. Wieder ertönte ein Stöhnen. »Gray«, sagte die andere Stimme. Es war eine bebende und halberstickte Mädchenstimme. »Schhh, schhh«, murmelte Gray so leise, daß Faith es kaum hören konnte. Er sagte noch andere Dinge, die Faith aber nicht verstand. Sie rauschten an ihrem Ohr vorbei, ohne daß sie sich aus ihnen hätte einen Reim machen können. Dann sagte er: »Ma chère«. Jetzt schaltete Faith. Er sprach französisch. Sowie sie das erkannt hatte, wurden ihr auch die Worte verständlich, als ob es zunächst des Verständnisses der Töne gebraucht hätte, um den passenden Rhythmus in ihrem Gehirn zu finden. Obwohl die Devlins weder Kreolen noch Cajun waren, verstand Faith das meiste von dem, was er sagte. Die Mehrzahl der Leute hier sprach oder verstand französisch, allerdings unterschiedlich gut.

Es hörte sich irgendwie so an, als ob er einen ängstlichen Hund locken wollte, dachte Faith. Seine Stimme wirkte warm und verführerisch, seine Sätze waren voller Beschwichtigungen und Koseworte. Als das Mädchen wieder etwas sagte, klang ihre Stimme zwar immer noch angespannt, aber sie hatte jetzt einen fast berauschten Unterton.

Neugierig und vorsichtig schob Faith sich ein Stück weiter, so daß sie mit einem Auge durch das geöffnete Fenster blicken konnte. Was sie sah, ließ sie auf der Stelle erstarren.

Gray und das Mädchen lagen nackt auf dem Bett, das mit dem Kopfende gegen die gegenüberliegende Wand gestellt war. Glücklicherweise konnte keiner der beiden sie sehen, denn Faith hätte sich keinen Millimeter rühren können, selbst wenn sie ihr direkt in die Augen geschaut hätten.

Gray lag mit dem Rücken ihr zugewandt, während sein linker Arm unter dem zerzausten blonden Haar des Mädchens versteckt war. Er lehnte sich auf eine Art und Weise über sie, die Faith den Atem stocken ließ. Denn in seiner Art lag sowohl etwas Beschützendes als auch etwas Ungestümes. Er küßte sie. Es waren lange Küsse, die das Zimmer bis auf das tiefe Stöhnen in Schweigen tauchten. Sein rechter Arm – es sah so aus, als ob ja genau! Er veränderte seine Position, und Faith konnte erkennen, daß seine rechte Hand zwischen den nackten Schenkeln des Mädchens lag, genau auf ihrem Geschlecht.

Faith schwindelte. Ihr Brustkorb schmerzte, weil sie so lange die Luft angehalten hatte. Vorsichtig atmete sie aus und lehnte ihre Wange gegen das weiße Holz. Sie wußte, was die beiden machten. Sie war jetzt elf, und sie war kein kleines Mädchen mehr, wenn sie auch noch keinen richtigen Busen hatte. Vor ein paar Jahren hatte sie Renee und ihren Vater im Schlafzimmer gestört. Ihr ältester Bruder Russ hatte ihr lüstern und sehr anschaulich erklärt, was dort vor sich ging. Hunde hatte sie auch schon dabei beobachtet. Katzen ebenfalls, die dabei schrien.

Das Mädchen stöhnte auf. Faith schaute wieder ins Zimmer. Gray lag jetzt auf ihr und murmelte immer noch französische Worte, lockend und tröstend. Er sagte ihr, wie hübsch sie sei, wie sehr es ihn nach ihr verlange, wie aufregend und wunderbar sie sei. Während er auf sie einredete, veränderte er seine Stellung. Auf den linken Arm gestützt, griff er mit der rechten Hand zwischen ihre Körper. Wegen des Blickwinkels konnte Faith nicht sehen, was er machte, aber sie wußte es ohnehin. Plötzlich erkannte sie das Mädchen. Es war Lindsey Partain, deren Vater als Rechtsanwalt in Prescott arbeitete.

»Gray!« stöhnte Lindsey mit halb erstickter Stimme. »0 Gott! Ich kann nicht ...«

Grays muskulöse Hüften spannten sich an. Das Mädchen bäumte sich stöhnend unter ihm auf. Aber sie klammerte sich an ihn, und ihr Schrei war voller Lust. Sie hob ihre langen Beine und legte eines um seine Hüfte, das andere verschränkte sie um sein Bein.

Langsam begann er seinen jungen, kraftvollen Körper zu bewegen. Der Anblick war einerseits aufwühlend und verstörend, aber gleichzeitig von einer verwirrenden Schönheit. Gray war so groß und stark, sein sonnengebräunter Körper elegant und äußerst männlich, während Lindsey, schlank und kurvenreich und sehr weiblich, in seinen Armen lag. Er ging behutsam mit ihr um, und sie schien es sehr zu genießen. Ihre schmalen Hände krallten sich in seinen Rücken, sie hatte den Kopf zurückgeworfen, während sich ihre Hüften in seinem langsamen Rhythmus hoben und senkten.

Faith betrachtete sie mit brennenden Augen. Sie empfand keinerlei Eifersucht. Gray war soviel älter als sie, und sie war noch so jung, daß sie ihn niemals mit besitzergreifenden, romantischen Blicken betrachtet hatte. Gray war der leuchtende Mittelpunkt ihrer Welt, den sie von weitem anhimmelte und dessen gelegentliches Auftauchen sie schwindelig machte. Als er sie heute angesprochen und sogar berührt hatte, war es der Himmel auf Erden für sie gewesen. Sie wäre gar nicht imstande gewesen, sich an Lindseys Stelle zu denken oder sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen mochte, so nackt in seinen Armen zu liegen.

Grays Bewegungen wurden schneller. Das Mädchen streckte sich ihm stöhnend entgegen. Sie hatte die Zähne aufeinandergebissen, als ob ihr etwas weh täte. Aber rein gefühlsmäßig wußte Faith, daß das nicht der Fall war. Grays Stöße waren jetzt sehr heftig. Er hatte seinen Kopf in den Nacken geworfen. Sein langes, schwarzes Haar klebte an seinen Schläfen und an seinen schweißgebadeten Schultern. Er bäumte sich auf und erbebte, dann drang ein tiefes Stöhnen aus seiner Kehle.

Faiths Herz schlug wie wild, und ihre grünen Katzenaugen waren weit aufgerissen, als sie sich von dem Fenster wegduckte, durch die Tür hindurchschlüpfte und die Terrasse so leise verließ, wie sie sie betreten hatte. So also war es. Sie hatte tatsächlich Gray dabei beobachtet, wie er es getan hatte. Nackt war er sogar noch attraktiver, als sie es sich ausgemalt hatte. Und er hatte nicht diese widerlichen, schnaubenden Geräusche gemacht, so wie Papa es tat, wenn er nüchtern genug war, um Renee ins Schlafzimmer zu locken. Während der letzten paar Jahre war das nicht gerade häufig vorgekommen.

Wenn Grays Vater Guy genauso schön dabei anzusehen war wie Gray, dann konnte sie es Renee nicht verübeln, daß sie ihn Papa vorgezogen hatte.

Sie erreichte die schützende Waldgrenze und schlüpfte leise durch das Unterholz. Es war schon spät. Vermutlich würde sie zu Hause eine Tracht Prügel von Papa bekommen, weil sie nicht dagewesen, wie üblich das Abendbrot vorbereitet und sich um Scottie gekümmert hatte. Aber das war ihr die Sache wert gewesen. Sie hatte Gray gesehen.

Erschöpft, glücklich und noch immer schwer atmend und bebend von dem ausklingenden Orgasmus hob Gray seinen Kopf von Lindseys Hals. Auch sie atmete mit geschlossenen Augen noch immer schwer. Er hatte den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht, sie zu verführen, und es hatte sich gelohnt. Das langsame und ausgedehnte Vorspiel hatte den eigentlichen Sex dann besser als erwartet ausfallen lassen.

Ein kleiner Farbfleck, eine winzige Bewegung am Rand seines Blickfeldes ließ ihn aufmerken. Er wandte den Kopf in Richtung des Fensters, durch das er die Veranda und den Waldrand sehen konnte. Er erspähte lediglich eine kleine, schmale Gestalt mit dunkelrotem Haar. Aber das genügte ihm, um die jüngste der Devlintöchter wiederzuerkennen.

Was streifte das Mädchen so weit entfernt von ihrem Zuhause durch die Wälder? Gray ließ sich Lindsey gegenüber nichts anmerken. Der Gedanke, daß sie zusammen beobachtet worden waren, hätte sie sehr beunruhigt, auch wenn es nur eine von den verarmten Devlins war. Lindsey war mit Dewayne Mouton verlobt. Es würde ihr überhaupt nicht in den Kram passen, wenn ihr jemand ihre Hochzeit vermasselte, selbst wenn ihr eigener Seitensprung die Ursache dafür wäre. Die Moutons waren nicht so reich wie die Rouillards – in diesem Teil von Louisiana war das niemand –, aber Lindsey wußte, daß sie Dewayne in einer Weise in Schach halten konnte, wie es ihr mit Gray niemals gelingen würde. Gray wäre zwar der dickere Fisch gewesen, aber zu einem pflegeleichten Ehemann taugte er nicht. Außerdem war Lindsey klarsichtig genug, um zu erkennen, daß sie bei ihm ohnehin keinerlei Chancen hatte.

»Was ist?« murmelte sie und streichelte seine Schulter.

»Nichts.« Er wandte ihr den Kopf zu und küßte sie. Dann entwand er sich ihrem Körper und setzte sich auf die Bettkante. »Mir ist nur gerade aufgefallen, wie spät es schon ist.«

Lindsey blickte aus dem Fenster auf die länger werdenden Schatten und fuhr mit einem Aufschrei hoch. »Himmel, ich muß heute zum Abendessen zu den Moutons! Nie und nimmer werde ich pünktlich sein!« Sie hastete aus dem Bett und sammelte ihre herumliegenden Kleidungsstücke ein.

Gray zog sich an, dachte derweil aber immer noch an das Devlinmädchen. Hatte sie sie gesehen? Wenn ja, würde sie etwas verraten? Sie war ein merkwürdiges Kind, viel schüchterner als ihre ältere Schwester, die jetzt schon alle Anstalten machte, zu einer ebensolchen Schlampe wie ihre Mutter zu werden. Die Jüngere aber hatte weise, wissende Augen in dem zarten Kindergesicht. Ihre Augen erinnerten ihn an Katzenaugen: blaugrün mit goldenen Punkten, so daß sie manchmal grün und manchmal gelblich aussahen. Er hatte den Eindruck, daß ihr nur wenig entging. Sie wußte, daß ihre Mutter die Gespielin seines Vaters war, daß die Devlins mietfrei in dieser Baracke wohnten, so daß Renee immer dann verfügbar war, wenn Guy Rouillard der Sinn nach ihr stand. Das Mädchen würde es nicht riskieren, sich mit den Rouillards anzulegen.

Armes, kleines, dünnes Mädchen mit dem entrückten Blick. Sie war arm geboren und würde niemals die Chance haben, sich davon frei zu machen, selbst wenn sie es wollte. Amos Devlin war ein gemeiner Säufer. Die beiden älteren Jungen, Russ und Nicky, waren diebisch und verlogen, genauso gemein wie ihr Vater. Sie zeigten bereits Anzeichen dafür, daß sie sich zu Trinkern entwickeln würden. Ihre Mutter Renee war dem Alkohol auch nicht abgeneigt, aber sie hatte sich nicht wie Amos der Sucht hingegeben. Obwohl sie fünf Kinder geboren hatte, war sie sinnlich und schön. Lediglich ihre jüngste Tochter hatte ihr dunkelrotes Haar geerbt, ebenso ihre grünen Augen und die milchigweiße, zarte Haut. Renee war zwar nicht gemein wie Amos, aber den Kindern war sie dennoch keine gute Mutter. Was Renee einzig und allein wirklich interessierte, war Sex. Man mokierte sich, daß sie sich jedem Mann hingab, der willens war, sich auf sie zu legen. Der Sex umgab sie wie eine Aura. Trunkener, besessener Sex. Sie zog die Männer an wie eine läufige Hündin die Rüden.

Jodie, die älteste Tochter, war die reinste Kinderhure. Schon jetzt hielt sie Ausschau nach jedem steifen Schwanz, den sie bekommen konnte. Sie war in dieser Hinsicht genauso entschlossen wie Renee. Gray bezweifelte, daß sie noch Jungfrau war, obwohl sie gerade erst die Oberschule besuchte. Sie hatte sich ihm wiederholt angeboten, was ihn aber nicht im mindesten in Versuchung brachte. Lieber würde er mit einer Schlange schlafen als mit Jodie Devlin.

Der jüngste der Devlinbrüder war zurückgeblieben. Gray hatte ihn, jedesmal an den Rockschoß des jüngsten Mädchens geklammert, nur ein- oder zweimal gesehen – wie hieß sie denn noch, verdammt? Irgendein Gedanke, der ihm eben durch den Kopf geschossen war, hatte ihn daran erinnert. War es Fay gewesen? Nein, doch nicht, aber ähnlich – Faith. Genau, das war ihr Name. Glaube, Hoffnung. Ein merkwürdiger Name für eine Devlin, denn weder Amos noch Renee waren auch nur im geringsten gläubig.

Bei einer solchen Familie konnte man das Mädchen natürlich abschreiben. In ein paar Jahren würde sie in die Fußstapfen ihrer Mutter und ihrer Schwester treten, weil sie sich einer Alternative gar nicht bewußt war. Und selbst wenn sie eine solche erahnte, dann würden doch alle Jungen um sie herumschleichen, weil ihr Name nun mal Devlin war. Lange würde sie dem nicht standhalten können.

Es war stadtbekannt, daß sein Vater bereits seit Jahren mit Renee schlief. So sehr Gray seine Mutter auch liebte, so wenig konnte er es Guy verdenken, daß er sich woanders umgesehen hatte. Der Himmel wußte, daß seine Mutter ihm deshalb jedenfalls keine Vorwürfe machte. Noelle war die am wenigsten sinnliche Frau, der Gray jemals begegnet war. Mit neununddreißig Jahren war sie noch immer so kühl und lieblich wie eine Madonna. Immer wirkte sie beherrscht und hielt Distanz zu ihrer Umwelt. Berührungen mochte sie nicht, noch nicht einmal von den eigenen Kindern. Es war ein Wunder, daß sie überhaupt Kinder bekommen hatte. Guy war ihr natürlich – zu Noelles großer Erleichterung – niemals treu gewesen. Guy Rouillard war heißblütig und lustbetont. Er hatte sich schon in so manchem Bett herumgetrieben, bis er es bei Renee Devlin, mehr oder weniger jedenfalls, bewenden ließ. Dennoch hatte sich Guy Noelle gegenüber immer zärtlich, zuvorkommend und beschützend verhalten. Gray wußte, daß er sie niemals verlassen würde, schon gar nicht für so eine billige Schlampe, wie Renee es war.

Seine Schwester Monica schien sich als einzige an dem Verhältnis zu stören. Von ihrer Mutter emotional ausgehungert, vergötterte Monica ihren Vater und war sehr eifersüchtig auf Renee. Auf diese Weise glaubte sie einerseits ihre Mutter zu verteidigen, andererseits war sie auf die viele Zeit eifersüchtig, die Guy mit Renee verbrachte. Seit Monica sich im Internat mit anderen angefreundet hatte, war es im Haus ruhiger geworden.

»Gray, beeil dich«, bettelte Lindsey hektisch.

Er schlüpfte durch die Hemdsärmel, knöpfte das Hemd jedoch nicht zu, sondern ließ es offen herabhängen. »Ich bin soweit.« Er küßte sie und klopfte ihr auf den Hintern. »Mach dir keine Sorgen, Chérie. Du mußt dich nur noch umziehen. Alles andere an dir sieht ohnehin schon wunderbar aus.«

Sie freute sich über das Kompliment und beruhigte sich etwas. »Wann machen wir das noch einmal?« fragte sie, als sie aus dem Haus traten.

Gray lachte laut auf. Er hatte den Großteil des Sommers damit verbracht, sie herumzukriegen, und jetzt war sie es, die keine Zeit mehr verschwenden wollte. Paradoxerweise war ein großer Teil seiner rücksichtslosen Zielstrebigkeit jetzt, wo er sie besessen hatte, von ihm abgefallen. »Ich weiß nicht«, sagte er langsam. »Ich muß mich schon bald wegen der Footballsaison wieder im College melden.«

Zu ihren Gunsten mußte man sagen, daß sie nicht die Miene verzog. Statt dessen warf sie den Kopf zurück, so daß der Wind ihr in die Haare fuhr, als die Corvette die Privatstraße hinauf zur Schnellstraße rollte. Sie lächelte ihn an. »Ich bin jederzeit dafür zu haben.« Sie war ein Jahr älter als er und besaß ein unerschütterliches Selbstbewußtsein.

Die Corvette schwenkte in die Schnellstraße ein, die Reifen faßten auf dem festen Teer Fuß. Lindsey bewunderte, wie Gray das schnelle Auto zu führen verstand. »In fünf Minuten bist du zu Hause«, versprach er. Auch er wollte nicht, daß ihrer Verlobung mit Dewayne irgend etwas im Wege stand.

Er dachte an die dünne kleine Faith Devlin und fragte sich, ob sie sicher nach Hause zurückgekehrt war. Sie sollte nicht allein in den Wäldern herumstreunen. Sie könnte sich verletzen oder sich verirren. Schlimmer noch, diese Wälder zogen die Schuljungen magisch an, obwohl sie in Privatbesitz waren. Und Gray machte sich keine Illusionen über das Verhalten von Schuljungen, wenn sie im Rudel auftraten. Wenn sie Faith begegneten, dann würden sie vermutlich gar nicht daran denken, wie jung sie noch war. Sie würden lediglich daran denken, daß es sich um eine Devlin handelte. Und das kleine Rotkäppchen hätte nicht die geringste Chance gegen die Wölfe.

Jemand mußte ein wachsames Auge auf dieses Kind haben.